Eule 🦉
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Nachtbeeren von Elina Penner

Eines vorweg: Ich bin voreingenommen. Das ist das erste Buch, das ich kenne, das sich mit meiner eigenen Kultur beschäftigt, und entsprechend fällt mein Urteil aus.
Ich habe das Buch als Audible-Hörbuch gehört, und das war ein Glück, denn es wird von der Autorin selbst gelesen. In der deutschen Hörbuchlandschaft kommt das so gut wie nie vor. Ich mag das jedenfalls sehr.

Nun zum Buch selbst.
Nelli Neufeld ist eine Russlanddeutsche und fromme Mennonitin. Sie lebt ihr Leben so, wie die Tradition und die Glaubensgemeinschaft es ihr vorschreiben: sie hält das Haus penibel sauber, kocht und backt, ordnet sich ihrem Ehemann unter, erzieht ihren Sohn zu einem weiteren Mitglied der mennonitischen Gesellschaft, kümmert sich um ihre Mitmenschen. Sie war nicht immer so. In ihrer Jugend hat sie versucht, sich dem Leben in Deutschland anzupassen, hat gerne gefeiert und ihre Ansichten waren eher liberal. Mit dem Tod ihrer Oma, des einzigen Menschen, der sie bedingungslos geliebt hat, macht es in ihr "klick", und von heute auf morgen krempelt sie ihr Leben um. Hosen, enge und kurze Röcke, Schminke - alles kommt weg. Sie entsagt dem Fernsehen und dem Alkohol (nun ja, fast). Jahrelang führt sie ein ruhiges, ordentliches Leben. Bis ihr Mann sie verlassen will.

Neben Nelli gibt es noch zwei weitere Ich-Erzähler, ihren Sohn Jakob und ihren Bruder Eugen. Die Nelli-Kapitel sind von Schwermut geprägt. Sie kann sich nicht an ihr Leben in Russland erinnern, wohl aber an die ersten Jahre in Deutschland. Sie fühlt sich zerrissen: einerseits hat sie Russland nie ganz verlassen und andererseits ist sie nie ganz in Deutschland angekommen. Die "Hiesigen" versteht sie bis heute nicht, die "onse" (unseren) scheinen nicht aus den jahrhundertealten Traditionen ausbrechen zu wollen, die sie einengen. Unter Nellis scheinbar ruhigen Oberfläche brodelt es.
Dem gegenüber stehen die Eugen-Kapitel. Hier habe ich an einigen Stellen hysterisch lachen müssen, der schwarze Humor ist bombastisch. Es ist nicht zuletzt deshalb so witzig, weil - wie erwähnt - das Hörbuch von der Autorin gelesen wird, die ihren Figuren genau den Ton gibt, den sie haben müssen. Es kommt ein wildes Gemisch von russischen, deutschen und plautdietschen Sätzen zustande, das wirklich saukomisch ist (besonders, wenn man das ganze auch noch versteht).

Überhaupt, das Plautdietsche. Es kommt auf jeder Seite vor, manchmal sind es nur einzelne Begriffe, manchmal ganze Sätze. Wie das im Buch gedruckt aussieht, kann ich nicht sagen. Wir haben keine Schriftsprache und der Versuch, plautdietsche Wörter mit deutschen Buchstaben zu schreiben, verfälscht sie natürlich. Deshalb rate ich persönlich zum Hörbuch.

Vieles von dem, was Nelli denkt, kann ich nachvollziehen. Manche Textstellen haben mich ständig Nicken lassen, weil ich genau weiß, wovon Elina Penner spricht. Diese nahezu exakte Beschreibung von etwas, das man selbst kennt, ist das, was mir besonders gefallen hat. Wie oft begegnet einem so etwas schon?

Das Ende hat mich nicht vollständig überzeugt, weil ich noch Fragen habe. Hat sie nun oder hat sie nicht? Und wieso leben alle weiter, als wäre nie etwas passiert? Trotzdem bin ich geneigt, dem Buch die Höchstwertung zu geben.
Ach ja, wer mal hören will, wie Plautdietsch geht, kann sich auf Youtube umschauen. Das ist der Kanal meiner Tante, die das plautdietsche Leben auf die Schippe nimmt.

Fazit: Das ist meine neue Buchliebe.

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